Wissenswertes
Haareis - ein seltenes und bizarres Naturphänomen
Wer an einem kalten, schneelosen Tag im Winter einen Spaziergang in einem Buchen- oder Laubmischwald unternimmt, trifft manchmal auf bizarre Gebilde an Totholz. Ab und an hängen an einzelnen Ästen im Wald schneeweiße, dichte, wellig gebogene, haarfeine Fäden, die insgesamt wie wattebauschartige Büschel (ähnlich wie Zuckerwatte) aussehen. Sie wachsen quer zur Achse des Astes an rindenfreien Stellen.
Der erste Eindruck lässt vermuten, dass es vielleicht ein Pilz ist. Es gibt tatsächlich einen Pilz, der ähnlich aussieht. Es handelt sich dabei um den Ästigen Stachelbart (Hericium coralloides). Er kommt meist auf Buchen (jedoch auch auf Eichen, Ulmen, Eschen Pappeln und Birken) vor. Dieser Pilz kommt in Mitteleuropa selten vor. Die Fruchtkörper erscheinen bereits im Herbst. Eine Verwechslung ist jedoch nur aus weiterer Entfernung möglich.
Dennoch ist die „Zuckerwatte“ kein Pilz, denn es handelt sich dabei um eine besondere Form des Eises, das sogenannte Haareis oder die Eiswolle. Bei diesem Naturphänomen bilden sich an abgestorbenen Ästen von Laubholz Haare aus Eis, die 30 – 100 mm lang und zum Teil nur 0,02 mm dick sind. Die Besonderheit dieser Eisform ist, dass sie nicht wie ein Eiszapfen an den Enden, sondern von ihrer Basis her wächst. Die Eishaare bilden sich mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit von 5 bis 10 Millimetern pro Stunde, solange genügend Wasser aus dem Holz nachgeliefert wird. Zusammen sind sie stark genug, um die Borke auch vom Ast abzusprengen. Eine Nacht genügt somit für eine ausgeprägte Haarbildung. Dabei spielt das lokale Mikroklima eine wesentliche Rolle. An schattigen Standorten überdauert das Haareis auch manchmal den ganzen Tag. In der Sonne hingegen beginnt es schnell zu schmelzen.
Bereits im Jahre 1833 veröffentlichte Sir John Herschel eine bebilderte Abhandlung in der Zeitschrift "The London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science". Darin beschrieb er Eisgebilde als "band- oder hemdkrausenartige wellenförmige Masse, die scheinbar aus Längsrissen des Stiels im weichen Zustande hervorgequollen war. Die Bänder hatten eine glänzende seidenartige Oberfläche und ein faseriges Gefüge."
Im Jahre 1918 beschäftigte sich der Meteorologe und berühmte Polarforscher Alfred Wegener (Vater der Kontinentalverschiebungstheorie) mit dem Haareis auf nassem Totholz. Er vermutete damals als Auslöser einen „schimmelartigen Pilz“.
Diese Vermutung wurde weitgehend 90 Jahre später durch eine biophysikalische Studie von Gerhart Wagner und Christian Mätzler bestätigte. Nach dieser Studie wird Haareis durch das Myzel winteraktiver Pilze ausgelöst, deren aerober Stoffwechsel Gase produziert, die das im Holz vorhandene Wasser an die Oberfläche verdrängen. Der Haareisforscher Christian Mätzler (emeritierter Professor am Institut für Angewandte Physik der Universität Bern) beschäftigte sich auch im Ruhestand weiter mit diesem Naturphänomen. Er hat herausgefunden, dass Haareis nur auf abgestorbenen Ästen von Laubgehölzen wächst, die von der Rosagetönten Gallertkruste (Exidiopsis effusa) besiedelt sind. Die genauen chemischen und physikalischen Prozesse, welche die Eishaare entstehen lassen, bleiben auch weiterhin im Dunklen. Die Forscher entdeckten jedoch in den geschmolzenen Eishaaren Reste organischer Substanzen. Darunter befand sich auch Lignin. Der Haareisforscher Mätzler vermutet, dass das Lignin oder ein ähnlicher Stoff das Eis seine ungewöhnliche Form behalten lässt. Das Haareis dürfte dem Baumpilz somit als eine Art Frostschutzmittel dienen. So gefriert das Wasser nicht im Ast, wo der Pilz wohnt, sondern außerhalb. Durch die Energie, die beim Vorgang des Gefrierens frei wird, wird der Ast zudem etwas wärmer als seine Umgebung.
Dieses Naturphänomen tritt nur bei ganz speziellen Wetterbedingungen auf. Damit Haareis entsteht, muss es vorher ein bis zwei Tage viel geregnet haben und die Temperatur anschließend gerade so um den Gefrierpunkt liegen. Dann muss eine windstille Zeit folgen. Die Temperatur muss anschließend unter den Gefrierpunkt fallen, damit sich Eis bilden kann. Es darf aber auch nicht zu kalt werden, damit der Prozess im Ast nicht zum Erliegen kommt. Das Wachstum der Strukturen entsteht dadurch, dass das Wasser zuerst oben gefriert und sich ausdehnt. Aber zusätzliches Wasser drückt von innen vom Ast her nach. Bei Erreichen der Oberfläche gefriert es ebenfalls und dehnt sich aus.
Zwei Effekte sorgen somit für das Herausdrücken des Eises aus dem Holz. Einerseits die größere Ausdehnung von Eis gegenüber Wasser. Andererseits, dass sich das Wasser bei zunehmender Abkühlung unterhalb von 4° C wieder ausdehnt. Diese Ausdehnung findet den geringsten Widerstand an der Oberfläche, weshalb es vor allem nach oben drückt. Die feinen watteartigen Strukturen entstehen durch die verholzten Gefäße in den toten Ästen. Dies erklärt, warum die Bildung von Haareis an sehr feuchte Luft und Temperaturen um 0° C gebunden ist und in einem sehr kurzen Zeitraum nur zu beobachten ist. Bei trockener Luft verdunstet das Wasser zu schnell und die Äste sind nicht mehr wassergesättigt. Bei zu tiefer oder zu schnell fallenden Temperaturen frieren die Äste zu schnell komplett durch. Außerdem muss sich die Rinde gerade lösen oder noch nicht lange gelöst haben. Es wird vermutet, dass die Lockenbildung, die oft wirre Anordnung und vielleicht auch die gelegentliche Scheitelung durch kleine Luftströmungen während des Haarwachstums entstehen.
Literatur:
Carter, James (2014): Blüten und Bänder aus Eis; Spektrum der Wissenschaft, Nr. 1, S. 36–45.
Streckfuß, Michael (2006): Zuckerwatte im Wald. LWF, www.waldwissen.net.
Wagner, Gerhart (2005): Haareis – eine seltene winterliche Naturerscheinung; Was haben Pilze damit zu tun? SZP/BSM 2005.
Wagner, Gerhart (2007): Haareis und Stängeleis. Zwei seltene winterliche Naturerscheinungen mit noch offenen Fragen, Die Alpen, 11, S. 64–67.
Wagner, Gerhart; Mätzler, Christian (2008): Haareis auf morschem Laubholz als biophysikalisches Phänomen; Forschungsbericht Nr. 2008-05-MW; Universität Bern
Wagner, Gerhart, Mätzler, Christian (2009): Haareis – Ein seltenes biophysikalisches Phänomen im Winter; In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Bd. 62, Nr. 3, S. 117–123.
Wegener, Alfred (1918): Haareis auf morschem Holz. Die Naturwissenschaften 6/1, S. 598–601.