Held des Weinbergs
Der Spießgeselle in den Hecken

An langen Dornen aufgespießte und zerteilte Leichen, der Name des Täters weist bereits auf einen Serienmörder hin und als Tatort werden immer undurchdringliche Hecken ausgewählt. Wer nun an einen spannenden Sonntagabend-Krimi denkt – weit gefehlt!
Diese – zugegeben etwas makabre - Szene lässt sich vielerorts in unserer Weinkulturlandschaft beobachten. An Ranken von Weißdorn, Schlehe und den Heckenrosen stecken Heuschrecken, Grillen, Raupen, Käfer, sowie junge Mäuse auf den Dornen. Verantwortlich hierfür ist die Charakterart unserer heimischen Heckenvögel, der Neuntöter (Lanius collurio).

Vorratshaltung auf Neuntöterart
Dass Säugetiere wie Eichhörnchen, Hamster und Mäuse Vorräte für die kargen Wintermonate anlegen ist bekannt. Doch auch manche Vogelarten sorgen vor. Rabenvögel, wie z.B. Rabenkrähen, Elstern und Eichelhäher verstecken bei Nahrungs­überangebot Nüsse oder Eicheln, um diese in der Winterzeit zu futtern.

Da der Neuntöter zu den Zugvögeln zählt und Ende des Sommers nach Südafrika zieht, ist das langfristige Anlegen von Winter­vorräten nicht nötig. Der Neuntöter ist jedoch auf eine kurzzeitige Vorrats­haltung bedacht, falls kühle Witterung und Schlecht­wetter­perioden die Beutejagd verhindern. Dann wird der Vorrat an aufgespießten Beutetieren verzehrt. Diesem vorausschauenden Verhalten verdankt er auch seinen etwas brutal klingenden, umgangs­sprachlichen Namen. Früher glaubte man, dass der Neuntöter erst neunmal Beute macht, bevor er zu Speisen beginnt. Das Aufspießen der erbeuteten Tiere dient jedoch nicht nur der Bevorratung, sondern erfüllt noch einen weiteren Zweck. Durch die Fixierung an den Dornen sind größere Beutetiere wie junge Mäuse oder Eidechsen leichter zu zerteilen.

Die weniger bekannte, „offizielle“ Bezeichnung des Neuntöters ist Rotrückenwürger. Diese richtet sich nach dem rostroten Rückengefieder des männlichen Vogels. Die Familie der Würger umfasst weltweit 33 Arten, in Deutschland brüten mittlerweile nur noch zwei (Raubwürger und Neuntöter) von einstmals vier heimischen Arten. Der Name „Würger“ bezieht sich auf die Eigenschaft, unverdauliche Nahrungsbestandteile als Speiballen wieder auszuwürgen.

Die Dornenvögel
Den eigenwilligen Umgang mit seinen Beutetieren legt die Anforderungen des Neuntöters an seinen Lebensraum fest. Das ideale Habitat besteht aus einer klein­räumigen Landschaft, durchsetzt mit dornigen Gebüschen und Hecken, die an insektenreiche Wiesen, Weiden, Säume oder Weinberge angrenzen.

Neuntöter sind Ansitzjäger, die auf exponierten Zweigen der Hecken Aus­schau halten. Gerät ein potenzielles Beutetier in den Fokus des Neuntöters, stößt dieser falkenartig darauf hinab. Doch nicht nur als „Ausguck“, sondern auch für die Aufzucht des Nachwuchses werden dornige Gebüsche gewählt. Das napfförmige Nest wird kunstvoll in die Zweige gebaut und mit durch­schnittlich 5-6 Eiern belegt. Die Verlust­rate ist hoch. Nur ca. 40 % der Jungvögel werden flügge. Gründe hierfür sind zum einen Prädatoren wie Elstern und Raben­vögel. Die andere Hauptursache ist die ungenügende Versorgung mit Nahrung, wenn ab der zweiten Juli­hälfte eine ungünstige Witterung mit niedrigen Temperaturen und häufigen Niederschlägen vorherrscht.

Der Neuntöter zählt zu den Vogel­arten, die seit der Kultivierung der Landschaft enorm an Lebensraum dazugewonnen haben. Die klein­strukturierte offene Landschaft mit hohem Hecken­anteil bietet ideale Habitate. Dies wandelte sich jedoch ab der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hunderts, als Flurbe­reinigungen und die Intensivierung der Land­wirtschaft das Landschaftsbild veränderten. Mittlerweile findet der Neuntöter in unserer Kultur­land­schaft nur noch in Rand­gebieten geeigneten Lebensraum vor.
Der Erhalt und die Förderung von struktur­reichen Landschaften mit einer engen Verzahnung von Hecken mit Grünland und Brachflächen sind daher essenziell für die Sicherung der Neuntöter-Population in Deutschland. In großflächig geprägten landwirtschaftlichen Gebieten fördern breite Säume entlang von Hecken die Wieder­ansiedlung des Neuntöters.

Infobox – Vogelzug
Viele unserer heimischen Vögel sind Saisongäste. Zum Ende des Sommers setzt die große Vogel-Reisewelle gen Süden ein. Für die Vögel bedeutet dies einen enormen Kraftakt, besonders wenn die unwirtlichen Alpen und die heiße Sahara überquert werden. Der Grund für den Herbst-Vogelzug ist einleuchtend. Diese Mühen werden unter­nommen, um in die nahrungs­reichen Überwinterungsquartiere zu gelangen. Denn Vogelarten, die sich hauptsächlich von Insekten und anderen „Krabbeltieren“ ernähren, finden in unseren Wintermonaten nicht genügend Beute. Doch warum nehmen die Vögel diese immensen Anstren­gungen im Frühjahr erneut auf sich und kehren zu uns zurück? Ausreichend Nahrung sollte in den tropischen Gebieten vorhanden sein.
Der Grund fürs Wiederkommen ist die Tageslänge. In unseren Breiten beträgt diese im Sommer bis zu 17 Stunden. Anders in Äquatornähe. Dort geht die Sonne an 365 Tagen um 6 Uhr früh auf und um 18 Uhr abends unter – und dies sehr schnell, die Dämmerung dauert gerade mal eine Viertelstunde. Der Zugewinn an bis zu fünf Stunden Tageslicht in unseren Breiten bedeutet für die Vögel immens mehr Zeit Nahrung zu suchen, welche dann hauptsächlich in den Schnäbeln der stets hungrigen Jungvögel im Nest gestopft wird. Unsere langen Sommertage sind auch der Grund, dass erfolgreich mehrere Bruten hintereinander groß­gezogen werden können.